Andacht vom 03.06.2014:
Als die Tochter des Pharaos den Korb öffnete, sah sie den weinenden Jungen darin. Sie bekam Mitleid und sagte: "Das muss eines der hebräischen Kinder sein." 2. Mose 2,6 (Neues Leben Bibel)
Der Volksmund kennt Worte wie "So wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen" oder "Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm". Und in der Tat, nicht selten übernehmen Nachkommen markante Verhaltensweisen ihrer Eltern. Als ich letzten Herbst bei einem Klassentreffen eintraf, standen bereits einige meiner ehemaligen Mitschüler vor dem Haupteingang der Schule. Sie sahen mich, wie ich auf sie zulief, da rief plötzlich einer aus der Gruppe: "Wie du läufst! Ganz der Kurt." Gemeint war mein Vater.
Unser heutiger Bibeltext bestätigt den Volksmund nicht. Der Vater der Prinzessin hatte immer wieder neue Anweisungen erteilt, um das Volk Israel zu dezimieren. Zuletzt hatte er befohlen: "Werft alle neugeborenen hebräischen Jungen in den Nil." (1 Mo 1,22 NLB) Lag es nicht nahe, dass auch die Tochter die Gesinnung ihres Vaters teilte? Weit gefehlt. Ihrer Tat gebührt bis heute höchste Anerkennung. Obwohl sie die Herkunft des Kindes sofort erkannte, reagierte sie warmherzig. Der spätere Volksführer Mose verdankte nebst Gott dieser Frau sein Leben, seine Bildung und zum guten Teil auch seine Erziehung.
Wie schnell passiert es heute, dass wir Erfahrungen mit Einzelnen verallgemeinern. Vor knapp einem Jahr wurde ich von einem ausländischen Bürger betrogen. In den folgenden Wochen war ich versucht, alle seine Landsleute als Gauner anzusehen. Das ist natürlich absurd.
Es gibt unzählige Bereiche, in denen Klischees unser Denken bestimmen. Stellvertretend sei erinnert an "die da oben", "die Radfahrer" oder "die Muslime". Erst wenn jemand selbst zu den Betroffenen zählt, wird ihm bewusst, wie schwer es ist, diesem "Gefängnis" zu entkommen.
Wie können wir solchen Verallgemeinerungen vorbeugen und sie überwinden? Ein wichtiger Schritt ist, sich zu weigern, Klischees zu übernehmen. Oft beruht unser Denkmuster nicht auf eigenen Erfahrungen. Manch einer hat beispielsweise noch nie mit einem Juden geredet, dennoch äußert er sich antisemitisch. Zum anderen kommen wir nicht umhin, jeden Menschen als eigene Persönlichkeit zu entdecken. Das ist mühevoller, dafür aber sehr gewinnbringend.
Wilfried Krause
Quelle: Andachtsbuch des Advent-Verlags Lüneburg - mit freundlicher Genehmigung.
