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Verfasser:Mag. Heinz Schaidinger
Erschienen in:Top Life Magazin 3 / 2007

Leben oder gelebt werden

Die Reizüberflutung und die Veränderung unseres Gehirns

© Jupiter Images
Nach einer recht frischen, aber doch erholsamen Nacht schält sich Dirk aus seinem Schlafsack. Mit freudiger Erwartung auf die herrliche Aussicht zieht er vorsichtig den Reißverschluss seines Zeltes nach oben und blinzelt in die Sonne, die sein Gesicht mit ihren wärmenden Strahlen bedeckt.

Dirk ist von der mächtigen Bergkulisse fasziniert, die sich ungetrübt vor seinen Augen ausbreitet. Es ist so herrlich zu leben! Doch plötzlich erstarrt Dirk: In seinem Blickwinkel nimmt er ein großes, braunes, kräftiges Bündel wahr, das sich ihm unter mächtigem Schnauben nähert! Für einen Augenblick meint Dirk, sein Herz bleibe stehen. Das ist auch das Letzte, was er bewusst wahrnimmt, bevor er mit einem kurzen Aufschrei der kleinen Waldgruppe zustürmt, um sich vor dem Bären auf einen Baum zu retten.

Von all der herrlichen Umgebung nimmt Dirk nichts mehr wahr. Die wunderschöne Almwiese, mit ihren herrlichen Sommerblumen, der wolkenlose Himmel, der sich in dem Bächlein widerspiegelt, über das er mit einem Satz hinüberspringt – nichts davon nimmt Dirk jetzt wahr. Nur mit dem einen Ziel vor Augen rennt er um sein Leben.

Dirk kann sich nicht einmal mehr erinnern, wie er es so schnell auf den Baum schaffte. Er keucht sich die Seele aus dem Leib. Sein Herz dröhnt und pumpt wie verrückt das Blut durch seine Adern. Unter ihm scharrt nervös der Bär und blickt immer wieder mit eigenartigem Brummen zu ihm hinauf. Für all die herrlichen Schönheiten um ihn herum hat Dirk kein Auge und keinen Sinn mehr. Er kann sich nicht einmal mehr an den Namen des Berges erinnern, auf dem er jetzt in einer äußerst misslichen Lage gefangen ist. All diese „Nebensächlichkeiten“ verschwinden ins Nichts. Allein die Hauptsache ist nun der Aufmerksamkeit wert, und die ist braun …

Der rettende Stress

Die Natur hat uns mit einem äußerst tauglichen Verteidigungsmechanismus ausgestattet. Wenn wir wirklich Stress bekommen, verengt sich unser Bewusstsein, damit wir nicht durch Nebensächlichkeiten abgelenkt werden, und konzentriert sich auf die Hauptsache, die es zu bewältigen gilt. Im Falle einer Gefahr ist dies eine sehr gute Sache. Wie ist es aber, wenn eine solche Erlebnissituation zum Alltag wird? Was, wenn unser Organismus durch Stress derart zugeschüttet wird, dass er die feineren Dimensionen der Umwelt gar nicht mehr wahrnehmen kann? Welche Folgen hat es, wenn unser Lebensstil dazu führt, dass wir nur mehr die groben Ereignisse wahrnehmen können, die feineren aber ausgefiltert werden?

Reiz, lass nach

In den vergangenen Jahren haben immer wieder Experten versucht, auf die Gefahren hinzuweisen, die durch eine zu starke Reizüberflutung entstehen. Dabei hat man sich vor allem auf den Einfluss der Medien konzentriert – sicher nicht unberechtigt. Die Thematik ist jedoch weit komplexer, als man ursprünglich annahm.

Seit den 1960er Jahren überprüfte die Gesellschaft für rationelle Psychologie aus München die sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten einer Versuchsgruppe von mehreren tausend Menschen in der BRD.1 Man beobachtete, dass nach einigen Jahren dieselben Nahrungsmittel und Speisen nicht das gleiche Geschmackserlebnis bereiten wie früher. Um dieses wieder zu bekommen, muss man den Nahrungsmitteln Geschmacksverstärker zusetzen. Das Gehirn interpretierte die Nahrung anders als noch vor Jahren. Die Reizschwelle erhöhte sich mit den Jahren. Ein Beispiel dazu liefert eine Untersuchung betreffs Ernährung. Um süß zu schmecken, war 1986 ein 29 Prozent stärkerer Reiz notwendig als 1971. Um salzig zu schmecken, war ein 44 Prozent stärkerer Reiz, um sauer zu schmecken, ein 60 Prozent und um bitter zu schmecken, sogar ein 100 Prozent stärkerer Reiz notwendig.

Unser Gehirn braucht für entsprechende Wahrnehmungen offensichtlich immer stärkere Reize. Wenn sich Veränderungen im Genusswert ergeben, hängt das nicht von einer veränderten Zusammensetzung der Speisen ab, sondern von einer neuen Interpretation des Geschmackserlebnisses durch das Gehirn. Tatsächlich hat sich herausgestellt, dass sich die Anzahl und die Intensität der Impulse der Geschmacksknospen nicht verringert haben. Reduziert ist lediglich die Sensibilität des zuständigen Gehirnbereichs. Wie ist so etwas möglich? Was bei der Begegnung mit dem Bären bei Sonnenaufgang gut und praktisch war, als Ausnahmeregelung sozusagen, wird im Alltagsleben zur Regel. Unser Gehirn im Dauerstress?

In den 1990er Jahren nahm man nur mehr etwa ein Drittel von dem bewusst wahr, was man in den 1970er Jahren registrierte. Nur mehr die Hälfte der Wahrnehmungen bleibt im Vorbewusstsein. Hingegen hat sich die Abspeicherung der Wahrnehmungen ins Unbewusste deutlich gesteigert.

Bei einem großen Teil der Reize, die früher eine Reaktion ausgelöst haben, weigert sich das Gehirn heute, in Aktion zu treten. Es wird immer schwieriger, die entsprechenden Zentren innerhalb der Gehirnrinde zu stimulieren. Offenkundig hat sich die Organisation des Gehirns verändert. Um dort eine Reaktion hervorzurufen, sind jetzt Salven von Aktionspotenzial notwendig, die vor etlichen Jahren noch zu einem Schock geführt hätten.

Ein neues Gehirn

Unsere Sensibilität für Reize verringert sich jährlich um etwa einen Prozentpunkt. Feine Empfindungen werden aus unserem Bewusstsein herausgefiltert. Dadurch entsteht Platz für eine Vielzahl von groben Thrills, wie besonders starke Reize genannt werden. Früher wurde ein optischer Reiz z. B. durch diverse miteinander vernetzte Gehirnzentren geleitet und hat so auch das Geruchszentrum aktiviert. Heute scheint es so zu sein, dass ganze Hirnareale übersprungen werden. Der optische Reiz geht direkt und ausschließlich an das Sehzentrum. Daraus entsteht das folgende Problem: Diese Parallelschaltung verhindert, dass nach der „neuen Gehirnorganisation“ die optischen Reize durch Vernetzung ins Willens- und Bewertungszentrum des Gehirns gelangen. Wir lagern heute optische Information direkt im Sehzentrum ab, ohne sie einer moralischen Bewertung zuzuführen. Die Folgen einer solchen Entwicklung könnten die ganze Gesellschaft betreffen: Die reine Konsumhaltung wird verstärkt, es kommt keine Reaktion mehr auf Gesehenes. Leid, das man beobachtet, rührt einen nicht mehr. Dinge, die uns früher erregten, lassen uns heute kalt. Wir brauchen immer krassere Thrills, um Genüsse empfinden zu können. Ist dies vielleicht ein Schlüssel zum Verständnis der ständigen Zunahme von Gewalt- und Sexualdelikten?

Die Auswirkungen des „neuen“ Gehirns gehen in alle Richtungen: Wenn man älteren Erwachsenen mit „altem Gehirn“ so genannte „Flesher Videos“ zeigt, in denen Menschen vor laufender Kamera zerstückelt und ausgebeint werden, empfinden sie Mitleid, Abscheu und Ekel. Die meisten weigern sich, solche Filme bis zum Ende zu betrachten. In der jüngeren Generation, die hier von klein auf stärkerer Reizüberflutung ausgesetzt war, verhält es sich anders: Die meisten Kinder haben dieses Problem nicht. Emotionslos beachten sie nur, ob die Dramaturgie des Films und die Handlung spannend sind. Wenn ja, schauen sie weiter hin, wenn nein, schalten sie ab. Das ist alles. Es findet keine moralische Bewertung des Gesehenen im Willenszentrum des Gehirns mehr statt.

Die Arbeitsweise des „neuen“ Gehirns

Man hat erkannt, wie das „neue“ Gehirn arbeitet. Durch die Parallelschaltung kann es, im Gegensatz zu den „älteren“ Gehirnmodellen, gleichzeitig und unabhängig voneinander unterschiedliche Reize aufnehmen und abspeichern. Das führt zu einer erhöhten Dissonanzbereitschaft. Unter Dissonanz versteht man Missklänge in einem sonst harmonischen Ablauf. Die Jugendlichen sind also mit Widersprüchen aufgewachsen und „können damit umgehen“, wie es so schön heißt. Früher hätte man eine solche Fähigkeit als Bewusstseinsspaltung bezeichnet. Heute ist das normal. Wer diese neue Fähigkeit nicht erlernt, wird im 21. Jh. untergehen. Die Reizüberflutung ist zu groß, das Gehirn muss sich dagegen schützen.

Was wäre die Alternative? Die Alternative zu dem Phänomen, das der Trend-Philosoph Gert Gerken „neue Gleichgültigkeit“ nennt? Er meint damit die geistige Möglichkeit, Unvereinbares zu vereinen und allem eine gleichwertige Gültigkeit zu verleihen – einfach, indem sich das Gehirn weigert, die gegensätzlichen Informationen miteinander in Beziehung zu setzen. So kann alles gleiche Gültigkeit beanspruchen, selbst wenn es widersprüchlich ist.

Weitreichende Folgen

Wir verlieren heute immer mehr unsere Wahrnehmungs- und Genussfähigkeit. Beispiel Gehör: Ende der 1970er Jahre konnte man noch rund 300.000 Klänge unterscheiden. Heute erreichen sie eine durchschnittliche Differenzierungsquote von etwa der Hälfte. Viele Kinder stagnieren bei und unter 100.000. Das ist genug für Hip-Hop und Rap-Music. Es reicht aber nicht mehr für die Feinheiten klassischer Symphonien.

Beispiel Sexualität: Wenn früher bei Männern schon durch in Unterwäsche abgebildete Frauen erotische Phantasien ausgelöst wurden, ist heute dazu viel härterer Stoff notwendig. Das Gehirn blendet schwächere Reize einfach aus. Das ist von Natur aus nur für Notsituationen vorgesehen. Aber jetzt reagiert das Gehirn offenbar ununterbrochen auf diese Weise. Es prüft die Reize nicht mehr, es setzt sie nicht mehr miteinander in Verbindung. Es speichert sie sofort ab und enthält sie dem Bewusstsein vor.

Ein Tsunami der Sinne

Nach den Forschungen der Wissenschaftler der Gesellschaft für Rationelle Psychologie in München hat die Veränderung der Gehirnorganisation Ende der 1960er Jahre begonnen, zunächst sehr langsam, bis dann um 1982 alle Sinnesorgane betroffen waren. Als Grund dafür nennen sie die Reizüberflutung des heutigen Menschen. Diese umfasst den Schlaraffenland-Effekt, das Phänomen der Maximalgenüsse, den Zeitraffer-Effekt und eine neue Dialektik der Sinnesverarbeitung: Das Gehirn bemüht sich ausschließlich darum, die heranstürmenden Reizwellen zu verarbeiten. Ungeprüft speichert es gegensätzliche und widersprüchliche Informationen ab, ohne eine Synthese herzustellen. Es öffnet sich nur noch Botschaften, die entsprechend aufbereitet wurden. Das erinnert an grausame Zukunftsvisionen von Huxley in „Brave New World“ oder an Orwell in „1984“. Freiheit, Glaube und menschliche Werte fallen dem genormten Glück zum Opfer. Erst durch die Gleichschaltung wird eine umfassende Überwachung möglich.

Geizen mit Reizen

Könnte es bei all dem sein, dass weniger Input – aufgrund von weniger Reizüberflutung – mehr Genuss verschafft, weil das, was dann kommt, feinsinniger aufgenommen werden kann? Könnte es sein, dass auch der Umkehrschluss stimmt: So wie Reizüberflutung den Menschen desensibilisiert, so bringt Mäßigkeit bzw. Einschränkung dem Menschen seine Feinfühligkeit zurück? Ein Loblied auf dieses Verhalten. Weniger ist mehr!

In der heutigen Wissenschaft ist es ein Gemeinplatz, dass die ungeheure Informationsflut unserer Tage der Intelligenz eigentlich schadet. „Moderne, so genannte Info-Junkies besitzen die Fähigkeit des Multi-tasking, was bedeutet, mehrere Dinge gleichzeitig im Auge zu behalten. Hirnforscher sehen darin jedoch eine Gefahr für die Intelligenz. Denn bei „Info-Junkies“ bleibe nur oberflächliches Wissen hängen. Die möglichen Folgen sind Unkonzentriertheit, Aufmerksamkeitsstörungen und ein chaotischer Denkstil. Es könnten zwar verschiedene Dinge gleichzeitig verfolgt werden, aber keine Sache mit gleicher Intensität. Professor Pöppl, für medizinische Psychologie an der Uni München zuständig, hat erforscht, dass unser Gehirn nur für je drei Sekunden ein Bewusstseinsfenster öffnet, um Neues zu erfassen. Auf dieser Plattform im Gehirn werde jedoch nur der Sachverhalt aufgenommen. Langsamkeit hingegen fördere den Denkprozess und die Kreativität.“ derStandard.at/Wissenschaft

Bewusst verzichte

n Angesichts einer solchen Prognose frage ich mich: Wem nützt eine Gesellschaft, die sich in diese Richtung entwickelt? Wer profitiert davon? Man kann diese Frage in wirtschaftlicher Hinsicht, aber auch in politischer und metaphysischer verstehen.

Kann man dagegen an? Wie wär’s mit einer Kultur der Langsamkeit? Mit einer Gesellschaft der sparsameren und dafür relevanteren Information? Mit einem bewussten Verzicht auf Reizüberflutung der Sinne? Wie wäre es mit einer effizienten Input-Kontrolle (TV, Computerspiele, Musik, Texte, Bilder, etc.)? Was hielte man von der bewussten Förderung der Denk- und Kritikfähigkeit bei jungen Menschen? Querdenker und Beurteiler anstatt konsumsüchtige Manipulierbare? Die Entwicklungen der letzten 30 Jahre auf diesem Gebiet sind kein Zwang, den wir nicht mehr loswerden könnten. Eine solche Entwicklung könnte auch umkehrbar sein, weil vermehrt wieder andere Werte gesucht und gelebt werden. Allerdings würde das auch wieder einige Jahrzehnte Zeit in Anspruch nehmen. Und das in einer Epoche, in der schnelles und verantwortliches Handeln so notwendig ist, um diesem Planeten überhaupt eine Chance zu geben (Beispiel Klimawandel)! Alle reden von unserer Selbstzerstörung, schon seit den frühen 1970er Jahren. Dennoch tut fast keiner was – weil auf die sanften Vorzeichen in der Natur keiner mehr reagiert – zu viele Bären rund um uns …

1 Etliche der in diesem Text verwerteten Infos stammen aus einem Artikel von Michael Kneissler in: PM 11/1993, S. 14-20.

Interview

TLS: Herr Schaidinger, Sie verwenden in Ihrem Artikel „Leben oder gelebt werden“ den Begriff „genormtes Glück“. Was verstehen Sie darunter? H.S.: Das ist das Glück, das sich andere für mich ausgedacht haben, das ich kaufen kann, das erzeugt ist, wo ich nicht selbst lebe, sondern gelebt werde.

TLS: Was wäre die Alternative zum „genormten“ Glück? H.S.: Das wäre das Glück, das ich selber finde und mache. Man bekommt ja nicht Glück auf dem Silbertablett serviert, sondern Glück ist, was ich aus meinem Leben selbst aktiv mache.

TLS: Werbung und Medien scheinen es ja darauf angelegt zu haben, die Reizschwelle der Konsumenten kontinuierlich zu senken. Wer profitiert davon und auf welche Weise? H.S.: Die Idee ist vielmehr, dass die Reizschwelle ständig angehoben wird und man immer höhere Reize braucht, um Reaktionen hervorzurufen. Wer davon Nutzen zieht? Eigentlich niemand. Aber man stellt sich darauf ein und erhöht in Werbung und Medien die Reizüberflutung, damit man auf dieselben Werbeergebnisse kommt. Der Kampf um den Konsumenten ist sicher mitbeteiligt an dieser Entwicklung, und es wird für alle härter, auch für die Werbung. Wenn man bedenkt, was früher schon zum Werbeerfolg geführt hat und was man heute alles unternehmen muss … Den höchsten Gewinn davon hätte jemand, der es darauf angelegt hätte, der Menschheit zu schaden, aber damit sind wir schon auf einer metaphysischen Ebene. TLS: Was sind die Folgen davon, dass wir unsere Wahrnehmungs- und Genussfähigkeit immer mehr verlieren? Welche Risiken sehen Sie darin? H.S.: Wir verlieren damit letztlich die Freude am Leben. Wir sind so überreizt, dass uns immer weniger freut. Das hat fatale Auswirkungen auf die Art und Weise, wie sehr wir das Leben genießen. Hier gilt: Weniger ist mehr! Das Leben wird hohl und schal, die Beziehungen werden flach, alles wird austauschbar, auch die Menschen.

TLS: Eine provokante Frage – ist es angesichts der heute täglich über uns hereinbrechenden Informationsflut nicht geradezu ein Vorteil, eine größere innere Gleichgültigkeit zu entwickeln? Wir könnten doch sonst gar nicht der Masse von Reizen und Impulsen standhalten, oder? H.S.: Das ist keineswegs provokant, sondern absolut korrekt. Anders können wir gar nicht überleben. Allerdings werden wir über diese Art zu überleben zu den Verlierern, wie ich schon angedeutet habe. Der einzige Ausweg, um das alles zu überleben und gleichzeitig nicht zum Verlierer zu werden, erscheint mir die Flucht vor alledem. Letztlich können wir zu keinem geringen Grad mitentscheiden, welche Reize uns überfluten dürfen und welche nicht.

TLS: Wie definieren Sie einen gesunden Umgang mit „Stress“? Worin sehen Sie die Alternative zur Tendenz, immer mehr abzustumpfen und durch Gleichgültigkeit Stress auszublenden? H.S.: Stress gehört zum Leben wie die Luft zum Atmen. Nur wenn es zu viel wird, beginnen die Probleme. Die Lösung ist einfach und kompliziert zugleich: Stressabbau. Nicht nur in der Arbeit, auch in den Hobbies. Stressabbau im Medienkonsum. Medienverzicht oder massive Einschränkung stellt unsere Wahrnehmungsfähigkeit wieder her. Man ist auf einem guten Weg, wenn man plötzlich wieder empfinden kann, dass ein Film rasend schnell geschnitten wird, schneller, als man bereit ist mitzuempfinden. Eine solche Resensibilisierung kann nur über „Karenz“ erfolgen. Wer wochenlang kein Salz ist, spürt wieder das Salz in der Kartoffel, allerdings könnte es passieren, dass er dann die salzigen Knabbereien nicht mehr verkraftet.

TLS: Inwieweit wirkt sich die ständig fortschreitende Verstädterung und das Leben in Abkoppelung von der Natur auf unsere Fähigkeit zur feinen Wahrnehmung aus? H.S.: Das ist sicher eines der Hauptprobleme. Viele Menschen empfinden das ganz stark und versuchen, zumindest ihren privaten Lebensraum wieder auf dem Land zu finden. Ich wohne selber in der Natur und kann nur bestätigen, wie genussreich das Leben dadurch ist. Aber es ist nicht nur das, es ist der grundsätzliche Zugang zum Thema „Reizüberflutung“. Und wer in Städten lebt, muss hier einfach mehr über sich ergehen lassen.

TLS: Welche konkreten Schritte könnte jeder Einzelne tun, um die eigene Genussfähigkeit und Feinfühligkeit wieder zu erhöhen? H.S.: Gemäß der vorigen Frage ist auch hier die Antwort: weg vom Künstlichen, zurück zum Natürlichen. Wenn es zu hektisch wird, dann den langsameren Gang einschalten, Auszeiten nehmen, nicht am Tag erst zur Ruhe kommen, wenn man sich ins Bett legt, denn sonst findet man auch dort keine Ruhe. Auf die körperlichen Erschöpfungszeichen achten, die psychischen Erschöpfungszeichen nicht übersehen. „Burn out“ ist ein Problem, das auch stark an Reizüberflutung gekoppelt ist. Die Langsamkeit neu erfinden und genießen. Und Verzicht. So banal das auch klingt, so einfach ist es letztlich: Weniger Computer spielen, weniger optische und akustische Maximalreize (Disco z. B.), weniger Beziehungen, dafür mehr Beziehung – nicht die Quantität, sondern die Qualität ist entscheidend.

TLS: Welche Aufgabe kommt Ihrer Meinung nach Eltern, ErzieherInnen, LehrerInnen zu, um Kinder und Jugendliche wieder für sich und ihre Umwelt zu sensibilisieren? H.S.: Die Erzieher haben meines Erachtens die Aufgabe, den Kindern und Jugendlichen ein Umfeld anzubieten, in dem sich diese gut entwickeln können, zu ihrer Individualität finden, in Selbstachtung und gutem Selbstwertgefühl aufwachsen und sich entfalten können. Welches Kind kennt heute die Vogelarten, die im Garten zwitschern? Welches die Bäume, die ums Haus stehen? Welches Kind kann Himmelsrichtungen und die Zeit an den Sternen messen? Wie sieht es mit der Sprachbeherrschung bei Kindern und Jugendlichen aus – und zwar über den Slang der Jugendszene hinaus? Zu diesem Umfeld für Kinder und Jugendliche gehören ein hohes emotionales und geistiges Niveau, weltanschauliche Werte, die über den Egoismus hinausgehen, körperliche Entwicklungsmöglichkeiten und auch geistliche. Und darüber könnte man noch viel sagen … Das Interview führte Mag. Claudia Winkler

 

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