Andacht vom 22.04.2010:
Jesus weinte. Johannes 11,35 (Elberfelder Bibel)
h der Absolute und Starke, der keine Gefühlsschwankungen hat und unbeweglich über den Dingen steht. Dabei habe ich gewissendlich die Texte überlesen, in denen von den Gefühlen Gottes geredet wird, von seinem Zorn, seiner Liebe, seiner Zuwendung.
Der kurze Satz "Jesus weinte" zeigt uns einen Gott, der mitfühlt und uns auch emotional ganz nahe ist. Er ist Mensch geworden, damit er nachempfinden, mitleiden und unsere Schwachheit spüren kann (Hbr 4,15). Jesus macht deutlich, dass es zum Menschen gehört, die Gefühle auszudrücken. Emotionen sind nicht minderwertig, sondern gehören zur Ganzheitlichkeit des Menschen. Gefühle der Freude und des Glücks sind ebenso Bestandteil unseres Lebens wie Trauer oder Verzweiflung.
Stark zu sein bedeutet eben nicht, unsere Empfindungen immer im Griff zu haben. Wenn wir lernen, sie angemessen auszudrücken, wenn wir zu ihnen stehen können, sie Teil unseres Lebens werden und wir uns ihrer nicht mehr schämen, dann wird unser Leben emotional gesünder werden. Studien haben gezeigt, dass das Verdrängen von Emotionen, das Herunterschlucken von Gefühlen, die Ursache zahlreicher psychosomatischer Krankheiten sein kann wie Magengeschwüre oder Depressionen.
Indem Jesus weinte, zeigte er seine Trauer und ließ seine Empfindungen zu, obwohl er wusste, dass er Lazarus wieder auferwecken würde. Jesus stand nicht über den Dingen und sagte nicht: "Seid ganz nüchtern, das regle ich schon", sondern hat die ganze Tragik des Todes gespürt. Das hat ihn traurig gemacht. Jesus konnte seinen Gefühlen freien Lauf lassen und mit den Angehörigen trauern.
Nehmen wir uns ein Beispiel an ihm! Versuchen auch wir unsere Gefühle zuzulassen und sie nicht zu verdrängen. Andernfalls suchen sie sich ein Ventil, das uns irgendwann an Leib und Seele krank machen wird.
Roland Nickel
Quelle: Andachtsbuch des Advent-Verlags Lüneburg - mit freundlicher Genehmigung.