Andacht vom 15.09.2004:
Schuldgefühle
Da gereute den Herrn das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte. 2.Mose 32,14
In einer Amsterdamer Kneipe sitzt ein Mann. Er schüttet ein Glas nach dem anderen hinunter. Seine Hände zittern, sein Blick ist leer, die Kleider sind zerlumpt und schmutzig. Jeder hier kennt ihn: Johannes Clamans, ehemals gefeierter Staranwalt in Paris. Wie wurde aus dem bedeutenden Juristen ein Säufer?
Eines Nachts war er über eine Seine-Brücke gegangen und hatte die verzweifelten Hilferufe einer Frau gehört. Sie trieb im Strom, den Ertrinkungstod vor Augen; dann verstummten gurgelnd die Schreie. Clamans sprang nicht ins Wasser, sie zu retten. Er ging weiter. Und die Schuld, zunächst verdrängt, fraß sich allmählich wie Säure in sein Bewusstsein: Immer mehr durchschaute er sein Leben, äußerlich das Bild eines geachteten, gütigen, aufrichtigen Mannes.
Als Trinker erzählt er nun allen Gästen immer wieder von seiner Schuld, die er damals auf sich geladen hat. Und er dringt jedes Mal in die Zuhörer, dass auch sie ihr Leben durchleuchten sollen. "Bußprediger" will er sein und schreit: "Bei mir wird nicht gesegnet und keine Absolution erteilt. Es wird ganz einfach die Rechnung präsentiert."
Albert Camus (1913-1960), der diese Geschichte schrieb, war Atheist, aber er hatte erkannt: Unvergebene Schuld kann einen Menschen vernichten. Beim Volk Israel und seinem Führer Mose nimmt die Schuldgeschichte einen anderen Verlauf: Während Mose auf dem Berg Sinai von Gott die Gesetztafeln erhält, treibt das Volk Götzendienst mit einem goldenen Kalb. Gott nimmt diese Schuld ernst, er will das Volk vernichten. Aber Mose bekennt - fürsprechend - diese Schuld und fleht zu Gott, er möge seine Gerichtsentscheidung überdenken.
Auch wir dürfen mit unserer Schuld jederzeit bittend zu Gott kommen. Unser Fürsprecher, Christus, hilf uns, Vergebung zu erfahren.
Albrecht Höschele
Quelle: Andachtsbuch des Advent-Verlags Lüneburg - mit freundlicher Genehmigung.