Andacht vom 08.10.2004:
Meine Heimat
Der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Offenbarung 21,4
Vor wenigen Minuten saß ich am Bett eines Schwerkranken. Sein Bild steht mir noch vor Augen. Es durfte ein kurzer Besuch sein; denn Reden und Hören strengen einen Sterbenden gleichstark an.
Auf meine Frage, ob ich ihm ein Bibelwort lesen darf, antwortet der Kranke: "Ja, aber mach es kurz." Seine Augen sind trüb und müde. Er hält sie meist geschlossen. Geistig aber ist er wach und ein geistlicher Mensch erst recht.
Ich frage: "Kennst du noch das 21. Kapitel der Offenbarung?" Da geht noch einmal ein Lächeln über das welke Gesicht. Und dann kommt - deutlicher als alle anderen Worte - über die Lippen des Sterbenden: "Meine Heimat!"
Als ich dann mit teilweise erstickender Stimme unser Textwort lese, sehe ich, wie die Lippen des Mannes die Worte lautlos nachformen. Als wir einander "Auf Wiedersehen" sagen, fügt der Kranke leise noch ein Wort hinzu: "... dort!"
Mit schwerem Herzen hatte ich mich auf den Weg gemacht; beschenkt mit der Glaubensgewissheit eines Sterbenden gehe ich den verschneiten Fußweg zur Straßenbahnhaltestelle.
Es ist mir recht, dass ich einige Minuten warten muss. Pausenlos flutet der Verkehr vorüber. Ich komme von einem Sterbenden, und hier pulsiert das Leben. Es sieht nicht so aus, als ob einer der Autofahrer oder Fußgänger an Tod, Leid, Geschrei oder Schmerz dächte. Das "Erste", das Vergängliche, hält sie samt und sonders in Spannung. Werden sie auf ihrem letzten Lager auch von einer bleibenden Heimat sprechen können?
Da hält die Bahn vor mir. Mein Gesicht spiegelt sich in einer großen Fensterscheibe und wirft die Frage auf mich zurück: Werde ich es können? Während einer Straßenbahnfahrt darf man getrost die Augen schließen. Man kann auch beten. Ich weiß, worum.
Felix Schönfeld
Quelle: Andachtsbuch des Advent-Verlags Lüneburg - mit freundlicher Genehmigung.
