Andacht vom 22.10.2012:
Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk ... Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen. 1. Korinther 13,9.13
"Es gibt Wahrheiten, die kann man nicht durch Orthodoxie erfassen, sondern nur durch Paradoxie". So antwortete einst Otto Gmehling (1904-1996, langjähriger Vorsteher der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten in Deutschland) auf die Frage eines Pastors. Es gibt Fakten und Fragen, die lassen sich nicht durch die richtige biblische Lehre verstehen, sondern nur dadurch, dass wir ihre Widersprüchlichkeit und Unvereinbarkeit anerkennen.
Diese Antwort, die ich als junger Pastor hörte, hat mir seither oft geholfen. Viele Menschen sind verunsichert, weil sie mit den Unterschieden und Widersprüchen, die ihnen im Leben begegnen, nicht umgehen können. Wenn sie Gegensätze nicht vereinbaren können, sind sie beunruhigt.
Unsere moderne Welt ist so kompliziert, so unbegreiflich und gegensätzlich geworden, dass sie vielen Menschen Angst einflößt. Diese Angst verführt dazu, bei vereinfachten Denkmodellen Zuflucht zu suchen. Alles wird so erklärt, wie man es von früher kennt, und was dazu nicht passt, muss als Irrtum abgewehrt und bekämpft werden, denn es ist ja gefährlich, weil es verunsichert. Häufig werden Lehrsätze, die in der Vergangenheit formuliert wurden, zu "Wahrheiten" erhoben, die es zu verteidigen gilt.
Selbst in Kirchen, die sich einst dagegen auflehnten, die Tradition als Offenbarungsquelle anzuerkennen, finden sich heute selbsternannte "Hüter der Wahrheit", die sich nur darauf berufen, was früher gelehrt wurde. Misstrauen und Zwietracht sind die Folgen. Es ist aber eine biblische Botschaft und es gehört zur persönlichen Reife, einzugestehen, dass "unser Wissen Stückwerk ist", ja dass sogar die Prophetie "Stückwerk" ist und bleiben wird, solange wir leben.
Es gilt, die Dinge von verschiedenen Standpunkten betrachten zu können, ohne sie immer gleich mit der eigenen Meinung in Übereinstimmung bringen zu müssen. Das kann aber nur gelernt werden, wo angenommen wird, dass "Glaube, Hoffnung und Liebe" auch dann Bestand haben, wenn alle Erklärungen versagen. Wer auf die Güte und Gnade Gottes hofft, kann Vertrauen und menschliche Nähe auch dann wagen, wenn er den anderen nicht versteht.
Lothar Wilhelm
Quelle: Andachtsbuch des Advent-Verlags Lüneburg - mit freundlicher Genehmigung.