Andacht vom 06.01.2005:
Einfach vergeben?
Glückselig die Barmherzigen, denn ihnen wird Barmherzigkeit widerfahren. Matthäus 5,7 (Elberfelder Bibel)
Ein Pastor besuchte einen Bauern, der schon viele Jahre mit seinem Nachbarn im Streit lag. Das belastete nicht nur die betreffenden Familien, sondern auch die anderen Dorfbewohner. Deshalb hatte sich der Pastor wieder einmal aufgemacht, um einen neuen Schlichtungsversuch zu unternehmen. Doch alle Hinweise auf die Schrift nützten nichts - der Bauer blieb hart. Schließlich wollte der Seelsorger gehen, da sagte der Bauer: "Aber ein Vaterunser werden Sie doch noch mit mir beten!" Der Geistliche betete bis zu der Bitte "und vergib uns unsere Schuld", dann sagte er "Amen". "Aber", meinte der Bauer, "das Vaterunser geht doch noch weiter!" - "Für Sie endet es hier, weil Sie Ihrem Nachbarn nicht vergeben wollen." Das war eine heilsame Predigt für den Bauern, der nun begriff, dass unser Verhältnis zu Gott nicht von unserer Einstellung zum Mitmenschen zu trennen ist.
Es ist ein Grundsatz im Neuen Testament, dass wir vergeben müssen, damit auch uns vergeben wird. Jakobus sagt (2,13): "Denn es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat." Barmherzigkeit üben heißt, sich in die Lage des anderen zu versetzen. Wenn ich die Denkweise meines Mitmenschen kenne, verstehe ich ihn viel besser. Ein französisches Sprichwort sagt: "Alles verstehen heißt alles verzeihen."
Jesus hat in seiner Bergpredigt keine leeren Theorien verbreitet. Er spricht von dem, was er den Menschen vorgelebt hat, und ermutigt seine Nachfolger, dasselbe zu tun.
Die Seligpreisung in Matthäus 5,7 könnte auch so lauten: Wohl dem, der lernt, sich in die Lage anderer Menschen zu versetzen und mit ihren Augen zu erkennen, was sie denken und fühlen. Denn wem das gelingt, dem werden die anderen auf die gleiche Weise begegnen, und er wird begreifen, dass Gott in Jesus Christus dies auch getan hat. (nach W. Barclay)
Erwin Binanzer
Quelle: Andachtsbuch des Advent-Verlags Lüneburg - mit freundlicher Genehmigung.