Andacht vom 20.01.2005:
Achtung voreinander
Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. Römer 12,10
Würdest du gern hören, dass man dich als einen bescheidenen Menschen bezeichnet? Nicht wahr, das klänge doch sehr nach Einfalt, wenn nicht gar nach Dummheit. Goethe sagte: "Nur die Lumpen sind bescheiden", womit er berechnendes, kriecherisches Verhalten geißelte.
Bescheidenheit in jeder Form ist aus der Mode gekommen. Das "Deutsche Wörterbuch" (Brockhaus Enzyklopädie Bd. 26) vermerkt unter "Bescheidenheit" das scherzhafte Sprichwort: "Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr." Dabei bedeutet Bescheidenheit ursprünglich "Verstand", "Einsicht", "Zuerkennung im Sinne von Zurückhaltung oder Selbstbeschränkung".
In krassem Gegensatz dazu steht Anspruchsdenken oder Rechtsanspruch. Natürlich kennen wir auch die falsche Bescheidenheit des Fuchses, der vergebens nach den Trauben springt und dann erklärt: "Ich mag sie nicht haben, sie sind mir zu sauer." Dazu passt haargenau die Feststellung von Wilhelm Busch: "Bescheidenheit ist das Vergnügen an Dingen, welche wir nicht kriegen." Den meisten fehlt einfach der Mut anzuerkennen, dass es für jeden von uns Grenzen gibt. Diese Einsicht erforderte schon immer eine gewisse Größe. "Untergehende Völker verlieren zuerst das Maß." Dem geistigen Vater dieses Ausspruchs sollte man ein Denkmal setzen.
Wahre Bescheidenheit ist eine Tugend der Klugheit. Dem Apostel Paulus schwebt diese Haltung vor, wenn er uns rät, dem anderen mit Ehrerbietung zuvorzukommen. Die Botschaft lautet: Übe dich in der Lebenskunst, das rechte Augenmaß zu erlangen. Jesus hat den Jüngern im Gleichnis von der Rangordnung (Lk 14,7-11) Vergleichbares empfohlen.
Wie wäre es, wenn wir an diesem neuen Tag Bescheidenheit übten? Es wäre einen Versuch wert. Vielleicht kommen wir dann zu der Erkenntnis, dass so das Zusammenleben leichter wird.
Felix Schönfeld
Quelle: Andachtsbuch des Advent-Verlags Lüneburg - mit freundlicher Genehmigung.