Andacht vom 16.02.2005:
Der Anstrich
Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Matthäus 22,37
Eine Gräfin suchte für ihren Sohn einen Erzieher. Man empfahl ihr den später berühmten Dichter Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769), der uns bekannt ist durch den Choral "Jesus lebt, mit ihm auch ich!" Die Gräfin unterbreitete dem jungen Gellert ihre Vorstellungen. "Machen Sie aus meinem Sohn keinen gelehrten Pedanten, ich verlange nichts als einen leichten Anstrich von Sprachen, Geographie, Geschichte, Mathematik und Chemie. Und machen Sie aus meinem Sohn um Himmels willen keinen ständig betenden Christen. Es genügt, wenn mein Sohn die Zehn Gebote lernt. ... Ich verlange von allem nur einen Anstrich!" Gellert hörte sich diese Wünsche an und riet dann der Frau, ihren Sohn zu einem Anstreicher zu bringen.
Diese Geschichte scheint sich sinngemäß in unserer Zeit zu wiederholen. In vielen Bereichen erwarten wir Qualität, in Glaubensangelegenheiten aber begnügen wir uns manchmal mit einem "Anstrich". Der reicht aber nicht aus, wenn Krisen im Leben kommen. Mit nur gelegentlichem Gott-Suchen baut niemand tragfähige Beziehungen auf, auf die er sich in schweren Zeiten stützen kann.
Nur wenige Menschen können heutzutage von sich sagen: Mir geht es gut, ich brauche von keiner Seite Hilfe. Neben dem vielen Schönen und Freudigen, das wir in unserer kultivierten Umgebung erleben, bringen uns die offiziellen Nachrichten täglich schockierende Berichte von schlimmem Leid in anderen Ländern. In seiner Endzeitpredigt (Mt 24) sagt Jesus: "Weil die Ungerechtigkeit zunehmen wird, wird die Liebe in vielen erkalten." Wer Tag für Tag eine vertrauensvolle Verbindung mit Gott pflegt, wird auch beachten, dass Jesus betont: "Dies (vgl. Leittext) ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.'" (V. 38.39)
Was ziehen wir vor: von ganzem Herzen geliebt zu werden, oder nur einen "Anstrich" davon zu erhalten?
Johann Niedermaier
Quelle: Andachtsbuch des Advent-Verlags Lüneburg - mit freundlicher Genehmigung.