Andacht vom 08.05.2005:
Zweierlei Küsse
Und sogleich trat er zu Jesus und sprach: Sei gegrüßt, Rabbi! und küsste ihn zärtlich. Jesus aber sprach zu ihm: Freund, wozu bist du gekommen? Matthäus 26,49.50 (Elberfelder Bibel)
Ein Kuss - Ausdruck der Liebe, der Vertrautheit und innigen Nähe. Die Evangelien berichten von zwei Anlässen, bei denen Jesus zärtlich geküsst wurde. Zuerst war es Maria Magdalena, die ein kostbares Parfüm über Jesus ausgoss und seine Füße mit ihren Tränen befeuchtete, mit ihren Haaren trocknete und nicht aufhören wollte, diese Füße zu küssen. Für viele war diese Szene anstößig, ja unanständig. Der Pharisäer Simon zum Beispiel fühlte sich irritiert und meinte, ein echter Prophet würde sich von "so einer" nicht anfassen lassen. Taktvoll gab Jesus zu verstehen, dass er Simons Gedanken lesen konnte, und er wies auch ihm den Weg aus der Isolation, die er durch Selbstgerechtigkeit und verdrängte Schuldgefühle selber herbeigeführt hatte.
Judas fühlte sich aus anderen Gründen abgestoßen. Er nahm den hohen Preis des Parfüms als Vorwand, Maria zu kritisieren. In Wirklichkeit fühlte er sich beschämt wegen ihrer Liebe und Hingabe und wurde sich einmal mehr seiner inneren Härte bewusst. An diesem Abend fasste er den Entschluss, Jesus zu verraten. Er benutzte einen Kuss als Zeichen: Wen ich küsse, den sollt ihr verhaften. Was für ein Kuss war das doch, durch den er seinen Herren, seinen besten Freund den Häschern auslieferte! Wollte er mit dieser Geste vielleicht sein Schuldgefühl kaschieren oder etwa Trost spenden: Sieh mal, ich will doch nur dein Bestes? - Wie oft verteilen wir solche falschen Küsse, angeblich zum Besten des anderen, in Wirklichkeit zu unserem eigenen Nutzen, weil unsere Pläne schneller wahr werden sollen? Küssen wir aus Berechnung? Aus Heuchelei? Weil es eben so Sitte ist? Oder kommt unser Kuss aus warmem, zärtlichem Herzen?
Sylvia Renz
Quelle: Andachtsbuch des Advent-Verlags Lüneburg - mit freundlicher Genehmigung.