Andacht vom 06.09.2006:
Ein großes Missverständnis
Ihr wisst, dass es heißt: "Auge um Auge, Zahn um Zahn." Matthäus 5,38 (Gute Nachricht Bibel)
Eine Berliner Tageszeitung schrieb in der Besprechung einer Shakespeareaufführung: "Das Stück handelt vom Morden und Wiedermorden und seiner Unabwendbarkeit. Es ist alttestamentarisch: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Mehr weiß es nicht."
Es gibt nicht viele Bibelworte, die so schlimm missverstanden werden wie das von "Auge um Auge". Zunächst gilt: Das ist ein Gebot nicht für uns, sondern für das alte Gottesvolk in Palästina und war eine Grundlage der damaligen Rechtsprechung. Vor allem aber: Hier geht es nicht um "Morden und Wiedermorden", sondern um das zu verhängende Strafmaß. Die Blutrache, das eigenmächtige und maßlose Vergelten, war verboten. Das Straf- und Gewaltmonopol übten allein die dafür Zuständigen aus, und zwar nach Recht und Gesetz. Heute würden wir sagen: der Staat. Den Israeliten wie uns heute galt und gilt das ewige Gebot: "Morde nicht!" (6. Gebot, wörtlich übersetzt.)
Trotzdem fragen wir uns: Was bedeutet uns jener uralte Text? Er warnt uns vor der Maßlosigkeit. Schon am Anfang der Bibel wird mit Schaudern das schreckliche Bekenntnis Lamechs wiedergegeben: "Einen Mann erschlug ich für meine Wunde und einen Jüngling für meine Beule." (1 Mo 4,23) Auch in manchem von uns liegt die Neigung, erlittenes Unrecht mit Zins und Zinseszins heimzuzahlen. Kränkungen, Enttäuschungen, Verletzungen - über Jahre und Jahrzehnte können wir sie nicht vergessen. Menschen werden abgeschrieben, die Gemeinde wird mit Missachtung "bestraft", Gift breitet sich aus.
Es wäre zwar schon einiges gewonnen, wenn wir geistig dieses alttestamentliche Rechtsniveau erreichten. Jesus aber sagt: "... Verzichtet auf Gegenwehr, wenn euch jemand Böses tut!" (Mt 5,39a GNB) Und er warnt uns: "Wenn ihr aber den andern nicht vergebt, dann wird eurer Vater euch eure Verfehlungen auch nicht vergeben." (Mt 6,15 GNB)
Dieter Leutert
Quelle: Andachtsbuch des Advent-Verlags Lüneburg - mit freundlicher Genehmigung.